Sonntag, 11. November 2012

Der Tiger und der Phönix

In einem tiefen grünen Dschungel lebte einst ein weißer Tiger.
Er fühlte sich ein wenig fehl in dem bunten scheinbaren Durcheinander an Blüten, Pflanzen und Tieren. Er selbst war ja nur weiss mit schwarzen Streifen. Trotzdem lebte er sich ein in diese Vielfalt an Impressionen.
Er hatte sein Lager in einem ruhigen Teil des Dschungels aus weichem Moos und dunklen, fast schwarzen Blättern gebettet. Denn auch sein Zuhause sollte nicht zu bunt sein. Er wollte an diese bunte und laute Welt da draussen nicht gebunden werden. Auch sein Speiseplan sah unscheinbar farblos aus. Graue Mäuse und Schwarze Krähen waren seine liebsten Jagdopfer.

Das Lager lag in einer Höhle am Fuße der steinigen Felswand, die sich erhaben und unüberwindbar über den Dschungel erhob. Doch ein schmaler steiniger Pfad führte an der des Tigers Höhle Seite unscheinbar und weit bis auf die Klippen. Vorbei an einem Wasserfall, der in die Klippen oben scheinbar einen Keil getrieben hatte, und mit jedem Tropfen der hinabstürzte, die mächtige Felswand zu spalten wünschte. Dort, am Wasserfall, wurde der Pfad etwas breiter, und bot sich förmlich an, Rast auf ihm zu machen. Der Ausblick war überwältigend. Neben dem rauschenden Wasserfall wanderte der Blick knapp über die Baumspitzen des Dschungels. Die Schreie der Vögel, das Gebahren der Tiere wurden hier zu einem entfernten Geräusch des wilden Waldes und wurde vom fallenden Wasser davongerissen. Hier verbrachte der Tiger seine Tage.

Auch an diesem Tag stieg er den steinigen Pfad hinauf bis zum Wasserfall.

Dort machte er es sich in dem warmen Schein der Mittagssonne bequem und legte den Kopf auf seine Vorderpfoten. Er schloss die Augen, um das Kribbeln zu geniessen, das ihm der kühle Wind bereitete, der frisch durch das gewärmte Fell strich. Wie so oft, nickte er ein.
Doch dieses Mal weckte ihm nicht die Röte der untergehenden Sonne, sondern ein Aufblitzen eines rotgoldenen Feuers.
Der Tiger öffnete die Augen und blickte auf das Grün unterhalb seines Ausblicks. Er konnte nichts ungewöhnliches erkennen. Irgendwo schrie ein Vogel auf und ein ganzer Schwarm Papageien erhob sich gen Himmel. Es war alles wie immer. Selbst auf der Lichtung seitlich des unteren Sees, unterhalb des Wasserfalls, wo sich oft Tiere versammelten um gemeinsam am See zu trinken, waren keine besonderen Vorkommnisse zu erkennen.
Nur ein roter, großer Vogel saß auf einem Felsen und blickte scheinbar ins Leere.
Der Tiger hob wieder den Blick über die Baumwipfel. Schon wollte er den Kopf wieder ablegen, da blitzte wieder etwas auf. Es kam scheinbar vom unteren See. Er blickte wieder hinab. Der Vogel saß immer noch auf dem Felsen und streckte ein Bein, mit dem anderen hatte er einen Fisch festgehalten der noch lebenshungrig mit der Schwanzflosse zappelte. Den musste er eben erst gefange haben. Der Tiger nahm sich vor, ihn im Auge zu behalten. Lange passierte nichts weiter. Der Rote Vogel mit dem prächtigen langen Gefieder pickte an dem Fisch und schien sein Mahl förmlich zu geniessen. Unterhalb des Felsens lagen kleine regenbogenfarben schimmernde Schuppen, und die ersten Gräten häuften sich an. Dem Tiger wurde langsam sein eigener Hunger bewusst, wie er den roten Vogel da genüsslich speisen sah. Er blickte sich hastig um, doch keine Maus war in der Nähe zu sehen. Er überlegte kurz, beschloss jedoch, den Vogel im Auge zu behalten.
Als dieser nach dem Mahl sich den schnabel am Felsen sauber rieb, wurde der TIger neugieriger, was nun passieren würde und lehnte sich etwas vor um keinen Augenblick zu verpassen.Der Vogel schüttelte sich und sein Gefieder. Er schüttelte die großen Flügel und spreizte sie langsam.
Der Tiger konnte es gar nicht glauben, was er da sah, die Flügel wurden immer länger und schimmerten golden. Immer wieder blitzte ein Funken bs zum Wasserfallausblick hinauf, jedesmal, wenn auch nur eine Feder einen noch so kleinen Strahl der Sonne fangen konnte, warf sie den gleich weiter in jede beliebige Richtung. Auf der Lichtung am unteren See blitzte es nun ununterbrochen.
Der Vogel spannte die Flügel, stiess sich kräftig ab und erhob sich in die Luft.

Der Tiger, ganz benommen, von dem eben Gesehenen, fühlte sich ertappt und zog sich sogleich hinter den Wasserfall zurück. Der goldrote Vogel sollte ihn keinesfalls sehen oder wissen dass er beobachtet wurde.
Dort unter dem Wasserfall vergass der Tiger seinen Hunger und fasste einen Entschluss.

Von nun an kam der Tiger jeden Tag an den Wasserfall, mit der Absicht, den Vogel zu beobachten. Doch der Vogel war nicht immer da und dann auch nur zu unterschiedlichen Zeiten. Dennoch konnte der Tiger ihn hin und wieder beim Jagen beobachten. Wie der Vogel starr auf einem Bein im Wasser stand, die Flügel schimmernd weit ausgebreitet, um ruhigen Schatten auf das Wasser zu werfen. Gerade die bunten schimmernden Fische wurden von dem sanften Glitzern der Federn angelockt. Nur ein schneller Stoß des Vogels war notwendig, die erhobene Kralle schoss lautlos ins Wasser und griff den scheinbar hypnotisierten Fisch aus dem Wasser. Und noch im selben Augenblick erhob sich der Vogel auf seinen Felsen zu seinem Mahl.
Der Tiger beobachtete den schimmernden Vogel beim Putzen der leuchtenden Federn, wie er jede einzelne lange Feder mit dem Schnabel abzog und diese von Staub befreite. Bis sie noch mehr golden glänzten und rot leuchteten.
Er beobachtete ihn beim Schärfen der Krallen und seines Schnabels an den Felsen.
Manchmal beobachtete er den Vogel beim Beobachten.
Der Vogel beobachtete selbst gern die anderen Tiere, die den unteren See besuchten um zu trinken oder zu baden.
Da überlegte der Tiger, warum der leuchtende Vogel , obwohl er so gut mit den anderen zusammen zu passen schien, immer alleine am See war. Er unterhielt sich mit den anderen Tieren, aber er kam und ging immer alleine. Dann, allein, spazierte er auf der Lichtung und spreizte seine Flügel in die Sonne. Kamen andere Tiere hinzu, saß er alleine auf einem hohen Baumast und hielt sich freundlich zurück. Doch die Tiere schienen ihn zu mögen.
Und dennoch war der Vogel allein.

Eines Tages ging der Tiger nicht hinauf zum Wasserfall.
Er schlug die entgegengesetzte Richtung ein und ging direkt an die Lichtung, wo er hoffte, keinem bunten Tier zu begegnen und nur den Funkenvogel näher beobachten zu können. Im Gebüsch leise angeschlichen suchte sich der Tiger eine dunkel vesteckte Stelle hinter Bäumen und kleineren Felsen an der Felswand und wartete. Es dauerte nicht lange, da rauschte es plötzlich und es funkelte zunehmend vom Himmel herab. Der Vogel kam zur Lichtung und landete anmutig auf seinen langen Beinen. Er zog die langen Flügel ein und schüttelte sie. Mit lautlosen Schritten trat er ans Ufer und trank. Langsam hob er den Kopf und lächelte in Tigers Richtung.
Ein aufgeschrecktes Luftschnappen, ein Rascheln. Der Tiger presste sich zwischen die Felswand und einen Fels unter große saftige Blätter einer heraunwachsenden Riesenpalme. Er spitzelte mit einem Auge hinter dem Felsen hervor.
Aber der Glitzervogel konnte ihn doch nicht gesehen haben? Das Versteck war doch so gut gewählt. Er meinte, sich getäuscht haben zu müssen und beschloss weiterhin in Deckung zu bleiben und zu beobachten. Er fühlte sich in seiner Meinung bestätigt, da der Vogel sich weiterhin verhielt, wie gewohnt, wenn er alleine auf der Lichtung am See war. Der Tiger atmete leise erleichtert wieder durch und entspannte sich.

Der Vogel stellte sich einbeinig in das Wasser und spannte seine prächtigen Flügel weit zu einem Kreis auf. Dieses Mal konnte der Tiger die Federn genau erkennen. Sie waren weich, goldfarben und schimmerten leicht in allen Farben des Regenbogens. Zu den Spitzen hin wurden sie zunehmen rot schimmernd und wirkten wie kleine Feuerzungen. Ihr Schimmern schien zu vibrieren wie flammendes Feuer.
Ein schneller Stoß der erhobenen Kralle nach einem Fisch riß den Tiger aus seinem Trance-ähnlichen Zustand.
Der Vogel erhob sich sofort auf seinen Felsen und pickte den farbigen Fisch tot.
Des Tiger Magen knurrte laut. Selbst erschrocken über dieses laute Geräusch, zuckte der Tiger wieder in seinen Spalt zurück und raschelte sich unter die Palmenblätter. Er hielt die Luft an, ihm wurde zunehmend heisser. Hat ihn sein Magen verraten?
Stille lag über dem See und der Lichtung. Nichts rührte sich. Er hielt den Atem an.
"Möchtest du auch einen Fisch, Weißer Tiger? Ich fange dir gerne einen." klang es ruhig über die Büsche zum Felsen.
Der Tiger riß erschrocken seine Augen auf, wusste nicht was er tun sollte. Wollte seine Entdeckung für einen Irrtum halten. Wenn er sich jetzt nicht rührte, würde der Vogel doch glauben, dass er sich geirrt haben muss?
Der Tiger wartete ab.
Stille.
Ein Klatschen im Wasser, ein Rauschen.
Wieder Stille.
Was geschah da nur auf der Lichtung? Er schnappte nach Luft.
Machte sich der Vogel zum Angriff bereit?
Der Tiger atmete schnell in sehr kurzen Atemzügen, bereit wegzulaufen. Wie konnte der Vogel denn angreifen? Kann er brennen? Ihn auch tot picken? Ihm wurde schwindelig.
"Ich lasse dir den Fisch am Ufer. Du kannst ihn essen, wann du möchtest, Weißer Tiger."
Der Tiger konnte nun nicht mehr glauben, es wäre ein Irrtum.
Er atmete aus und tief durch. Überlegte. Und fasste seinen Mut zusammen. Schliesslich ist er hier der Tiger. Moment, aber eben nur ein weisser und farbloser. Was wird der Vogel nur sagen? Er streckte sich und machte sich groß. Stolz und mutig wollte er wirken. Er schritt aufgeregt auf leisen Pfoten aus seiner Deckung und liess dabei den Vogel nicht aus den Augen. Sein Herz raste. Aber seine Angst wollte er sich nicht anmerken lassen.
Der Feuervogel saß ruhig auf seinem Felsen. Den Fisch hatte er schon gegessen, vor dem Felsen lagen nur noch bunte Schuppen und Gräten.
Der Tiger setzte sich vor den zweiten Fisch der noch am Ufer lag, blickte ihn hungrig, legte stolz seinen Schwanz auf seine Vorderpfoten und nickte zum Vogel. "Danke."
Dieser nickte zurück und stellte sich vor: "Ich bin ein Phönix. Ein Feuervogel. Iss den Fisch, Weißer Tiger. Frisch sind sie am leckersten."
Die Lehre des Phönix
Der Tiger schwieg, blickte nochmals auf den Fisch vor seinen Pfoten und begann nach kurzem Zögern ihn zu verspeisen. Noch nie hatte er einen so leckeren Fisch gekostet. Denn ausgerechnet diese bunten Regenbogenfische waren für ihn unmöglich zu fangen. Sie waren bunt.
"Woher wusstest du, dass ich mich verstecke?" fragte der Tiger, während er sich nach dem Mahl säuberte.
"Ich habe dich gesehen. Auch schon, als du am Wasserfall gesessen hattest."
Der Tiger erstarrte. "Wie konntest du mich denn sehen? Es ist weit oben über den Wipfeln des Wilden Waldes und ich bin doch auch nur schwarz und weiss. Nicht so prächtig oder bunt und besonders wie du oder all die anderen bunten Tiere in diesem Dschungel. Ich passe hier gar nicht wirklich rein. Und auch nicht zu den anderen." Er senkte seine Stimme und schwieg.
Der Vogel putzte sich die Federn und ließ auf seine Antwort etwas warten. Er sprang vom Felsen und stellte sich neben den weißen Tiger. Dieser spannte sofort wieder seinen langen Körper und rückte etwas ungemütlich herum, blieb jedoch sitzen. Es wäre unhöflich sich umzusetzen.
"Du bist doch was besonderes." sagte der Phönix. "Du bist hier der einzige weisse Tiger, Weisser Tiger. Der einzige, der keine Farbe besitzt. Und damit auch was Besonderes in dieser bunten Welt und ebenso prächtig, wie jeder andere hier in diesem wilden Wald. Darum passt du auch so wunderbar hier rein. Zu den Anderen."
Der Vogel breitete seine Flügel in die Sonne um sie zu wärmen, streckte den Kopf der Sonne entgegen und schloss die Augen.
Der Tiger schwieg. So hatte er das noch nicht gesehen. Er war also auch was ganz besonderes. Aber eben auf seine Weise. Wie jeder hier im Dschungel. Der Pfau hatte sein Federrad, der Elefant war sehr groß und hatte seine impostanten Stoßzähne. Sogar die Affen und Äffchen hatten immer Besonderheiten, in denen sie sich so unterschieden. Und er? Er war eben weiss. Aber als einziger. Mit tiefschwarzen Streifen.
"Die anderen mögen mich aber vielleicht nicht." zweifelte der Tiger.
"Hast du sie gefragt?" fragte der Phönix ohne sich zu rühren.
Der Tiger schwieg.
"Siehst du? Woher willst du das dann wissen?" der Vogel rührte sich weiterhin nicht. Er sprach mit geschlossenen Augen weiter. "Du musst sie fragen. Aber dafür musst du auf sie zugehen." Der Tiger hob an, um mit seiner Schüchternheit einen Einwand vorzubringen, doch der Phönix sprach weiter." Beachte. dass große Liebe, große Freundschaft wie großer Erfolg immer mit großem Risiko verbunden sind. Finde Mut in deiner Schüchternheit."
Der Tiger senkte den Kopf nachdenklich und schwieg.
"Gehe langsam auf sie zu, Weisser Tiger. Die Schwierigkeit besteht nicht darin,besonnen zu sein, sondern an die Besonnenheit zu denken. Beginne damit, dass du jede Gelegeheit ergreifst, die sich bietet. Bist du guten Willens, Weisser Tiger, stets besonnen zu sein, dann wird es dir zur Gewohnheit, dich spontan zu besinnen."
Der Phönix senkte seinen Kopf und öffnete die Augen. Er blickte in die des Tigers und lächelte. Er zog seine Flügel ein und schüttelte sie zurecht.
Der Tiger beobachtete ih dabei.
"Du meinst, ich bin hier besonders..." flüsterte der Tiger.
Der Vogel spannte die Flügel, nickte und hob ab.

Er kam nie wieder zur Lichtung des unteren Sees.
Doch der Tiger versteckte sich von da an nicht mehr im Gebüsch oder unter Palmenblättern. Er ging den bunten Tieren nicht mehr aus dem Weg und sprach sogar mit bunten Papageien. Ihre Schreie und der sonstige Lärm hier im Dschungel störten ihn nicht mehr. Nun war er selbst ein Teil dieser bunten Welt.
Und brüllte mit den Affen gegen die Vögel an.

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